Verehrte Kirchengemeinde, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

in diesem Jahr blicken wir in vielfältiger Weise auf die letzten beiden Weltkriege zurück. Der Erste endete vor 101 Jahren und wurde mit Recht die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ genannt. Die zivilisierte Welt fiel in Abgründe. Doch damit nicht genug: 25 Jahre nach dem Ersten begann nach dem Hitler-Stalin-Pakt vor jetzt 80 Jahren der Zweite Weltkrieg, der Schrecken und Gewalt ins Unfassbare steigerte.

Bereits 74 Jahre sind seit dem letzten Kriegsende vergangen. Der Zweite Weltkrieg wirft aber einen langen Schatten. Er ist ein ferner, doch kein abgeschlossener Teil unserer Vergangenheit. Die Erfahrung seiner Schrecken gehört zu unserer nationalen Identität und prägt auch das Selbstbild unserer Nachbarstaaten. Die europäische Einigung entsprang dem festen Willen, das Zeitalter der Kriege zu überwinden und dauerhaften Frieden auf unserem Kontinent zu sichern. Um den Erfolg dieser Politik beneiden uns viele.

Leider herrscht auch heute kein Frieden auf der Welt. Als der kalte Krieg zwischen Ost und West zu Ende ging, dachten wir, dass nun endlich Friede sei. Doch kaum war das neue Millennium angebrochen, musste sich die Welt mit einer anderen Art von Konflikt, dem Terrorismus auseinandersetzen. So leisten heute immer noch tausende Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr an der Seite verbündeter Streitkräfte einen gefährlichen Dienst im Ausland. Viele Bundeswehrangehörige haben dabei ihr Leben verloren. Unser Gedenken am Volkstrauertag gilt deshalb auch diesen Opfern und unsere Gedanken sind bei ihren Familien. Die Trauer der Angehörigen um die durch Krieg und Gewalt ums Leben gekommenen Menschen war in der Vergangenheit und ist auch heute unermesslich und überall in der Welt gleich.

Mitgefühl ist eine menschliche Errungenschaft. Sie setzt das Vermögen voraus, die Gefühle der anderen, ihre Trauer und ihren Schmerz anzuerkennen und sich hineinzudenken. Sie macht nicht an den nationalen Grenzen Halt und führt zu der Einsicht, dass die Menschen über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg durch gemeinsame Werte, Rechte und Pflichten, Sehnsüchte und Ängste miteinander verbunden sind. Ganz gleich, ob sie in Europa oder in einem anderen Kontinent leben. Ob sie Zeitgenossen sind oder Angehörige einer vergangenen Epoche. Wir können uns nicht von den Opfern der Kriege und Gewaltherrschaft lossagen.

Solche Gedenktage wie der heutige Volkstrauertag machen uns erneut bewusst, welche Geschichte uns geprägt hat. Und sie lassen uns die Gegenwart und die Herausforderungen der Zukunft klarer erkennen. Der Blick zurück kann unsere Aufmerksamkeit schärfen und uns warnen, was kommen kann, wenn wir unachtsam werden. Durch solche Gedenkfeiern geraten die Kriegsgräber im In- und Ausland wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit. Das ist gut so, denn sie können uns eine Ahnung von dem massenhaften Leid vermitteln, welches der Krieg über die Menschen bringt und das Leben von Generationen beeinflusst.

Über 70 Jahre Kriegsende, das sind auch Jahrzehnte seit dem Beginn der deutschen Teilung, die Familien, Freunde, ja ganze Gemeinden auseinander riss. Der Osten Europas, der bis 1990 vom Sowjetkommunismus beherrscht wurde, konnte erst mit dem Fall der Berliner Mauer, zu dem wir vor einer Woche das 30-jährige Jubiläum feiern durften, zusammenwachsen und am europäischen Integrationsprozess teilhaben. Mit dem Sieg von Freiheit und Demokratie in den weitgehend friedlichen Umbrüchen vor 30 Jahren begann ein neues Zeitalter für Europa. Indem wir an diejenigen erinnern, denen diese universellen Werte nicht zuteilwurden, unterstreichen wir ihre Bedeutung als ein hohes und schützenswertes Gut. Hierin sehe ich eine unserer vordringlichsten Aufgaben, nicht nur am Volkstrauertag.

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