Verehrte Kirchengemeinde,

wer heute durch Deutschland oder Europa fährt, dem fällt es schwer, in den idyllischen Landschaften, den schönen Dörfern und in den lebendigen Städten die Schauplätze der Kriege, Diktaturen und Gewalt des 20. Jahrhunderts zu erkennen. Doch tatsächlich gibt es kaum einen Ort, der im vergangenen Jahrhundert nicht Schauplatz war. Von Leid, Scham und Trauer – aber auch von Verdrängen und Verleugnen.

Seit den 1920er-Jahren hat das Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkriegs in ganz Europa in Denkmalen und Soldatenfriedhöfen seinen materiellen Ausdruck gefunden. Nach 1945 aber, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der von Deutschland als Eroberungs- und Angriffskrieg geführt wurde, sollte es Jahrzehnte dauern, bis der von Deutschland betriebene Völkermord an den europäischen Juden und die Ermordung von angeblich „lebensunwerten“ Menschen zu einem wesentlichen Bestandteil der deutschen und gar europäischen Erinnerungskultur wurde. Zum sichtbarsten Zeichen wurde das Denkmal für die ermordeten Juden Europas errichtet. Unübersehbar im Herzen des wiedervereinigten Berlins.

Als der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge 1919 vorschlug, einen Volkstrauertag einzuführen, ging es vor allem darum, die im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten, deren Grabstätten sich oft weit entfernt von ihren Heimatorten befanden, zu betrauern und ihrer zu gedenken. Damals verband man mit der Einführung dieses Tages die Erwartung, dass eine einheitliche Erinnerung an das Leid des Krieges die Deutschen über alle Schranken hinweg zusammenführen könnte.

Seit den 1950er-Jahren ist dieser Volkstrauertag dem Gedenken an die Kriegstoten und an die Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen gewidmet. Unter dem Eindruck der Verbrechen des zweiten großen Krieges und der zahllosen Opfer entstand das Leitmotiv des Volksbundes, zu einer Versöhnung über den Gräbern beizutragen. Dieser doppelte Anspruch erwies sich als große Herausforderung. Mit dem Gedenken an die Kriegstoten aller Nationen leistete der Volksbund einen unschätzbaren Beitrag zur Völkerverständigung über den Eisernen Vorhang hinweg.

Der Volkstrauertag ist vor allem der Rückbesinnung auf Krieg und Gewaltherrschaft und der Trauer um die vielen Millionen Opfer zu allen Zeiten gewidmet. Er ist ein Tag, der Raum bietet für Trauer und Schmerz über all die ausgelöschten Leben. Denn hinter den Zahlen, die sich in vielen Millionen bemessen und die Toten und Opfer bezeichnen, stehen Biografien von Menschen, die geliebt wurden, die geliebt haben, die mutig waren, die unschuldig waren oder sich schuldig machten und die auch Verantwortung für den Tod und das Leid anderer trugen.

Aller Trauer über die menschlichen Verluste, aller Respekt vor dem Sterben und Leiden entbinden uns nicht von der Verantwortung, Fragen nach Verstrickung und Schuld zu stellen. Gedenken und Aufarbeitung sind keine Gegensätze, sondern gehören zusammen. Auch um diejenigen würdigen zu können, die als Unschuldige willkürlich verfolgt wurden oder ihren Einsatz gegen Gewalt und Diktatur und für demokratische Rechte und Freiheit mit ihrem Leben bezahlt haben. Nur wenn wir uns auch der Aufarbeitung stellen, können wir das Gedenken vor Vereinnahmungen schützen, die aus Opfern Täter und aus Tätern Opfer machen wollen und Fragen nach Verantwortung und Schuld nicht zulassen.

Nur so kann eine Landschaft der Erinnerung entstehen, die gleichermaßen an Völkermord und Gewaltherrschaft erinnert. Diese bietet zugleich Raum dafür, die Gewalterfahrungen all jener Menschen, die vor Krieg und Gewalt zu uns flüchten, aufzunehmen und diesen Menschen mit Respekt und Mitgefühl zu begegnen.