Verehrte Anwesende, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
bereits 66 Jahre sind seit Kriegsende vergangen. Der Zweite Weltkrieg wirft aber einen langen Schatten. Er ist ein ferner, doch kein abgeschlossener Teil unserer Vergangenheit. Die Erfahrung seiner Schrecken gehört zu unserer nationalen Identität und prägt auch das Selbstbild unserer Nachbarstaaten. Die europäische Einigung entsprang dem festen Willen, das Zeitalter der Kriege zu überwinden und dauerhaften Frieden auf unserem Kontinent zu sichern. Um den Erfolg dieser Politik beneiden uns viele.
Der Volkstrauertag ist einer der stillen Gedenktage. Er ist ein Tag des Innehaltens, der Einkehr und des Mitfühlens. Wir gedenken in Deutschland der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.
So wie ich persönlich auch kennt die junge Generation diese Bilder, wenn auch nur aus Schulbüchern, Spielfilmen oder anderen Veröffentlichungen. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und das Nazi-Regime ist in Deutschland allgegenwärtig. 55 Millionen Menschen sind damals weltweit getötet worden. Jüngere Untersuchungen sprechen von noch viel größeren Verlusten. Hinzu kommen Millionen Menschen, die verwundet und entsetzlich verstümmelt wurden. Allein in Deutschland wuchsen fast 2,5 Millionen Kinder als Kriegswaisen oder –halbwaisen auf. Das sind Zahlen, vor denen unsere Vorstellungskraft versagt.
Wir erinnern uns an nicht enden wollende Grabreihen, an Soldatenfriedhöfe, die Baracken der Konzentrationslager, zerbombte Städte, gedemütigte Menschen, verbrannte Landstriche, Flüchtlingstrecks und die Eisenbahnwaggons der Spätheimkehrer. Jeder wird an diesem Tag andere Bilder vor Augen haben. Trauer lässt sich nicht staatlich verordnen, sie ist ein sehr persönliches Gefühl. Mitfühlen, gemeinsames Erinnern und Gedenken aber bringen zum Ausdruck, dass die unmittelbar Betroffenen nicht allein sind, dass wir uns als Gemeinschaft empfinden, die sich zur Friedfertigkeit bekennt.
Nach wie vor ist Gewalt weltweit verbreitet. Nach wie vor werden Menschen in vielen Teilen der Welt Opfer von Krieg, Verfolgung, Vertreibung und Terror. Auch mit diesen gegenwärtigen Schrecken müssen wir uns am Volkstrauertag auseinandersetzen. Dazu gehört auch, dass wir der jungen Soldaten gedenken, die heute in Afghanistan oder in anderen Teilen der Welt ihr Leben riskieren, um den Aufbau eines Staates zu unterstützen, um dort den Menschen zu ihren Menschenrechten zu verhelfen.
Der Volkstrauertag darf sich aber nicht allein in der Rückschau und in der Tradition erschöpfen. Er ist ein sehr aktueller Gedenktag, den wir brauchen. Er schützt vor dem Vergessen und Verdrängen. Er mahnt uns, aus den Schreckensbildern der Vergangenheit die richtigen Schlüsse zu ziehen. Gegen Krieg und Gewalt – für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit – das ist seine Losung. Am heutigen Volkstrauertag bekennen wir uns zum Wert des Lebens.
Haben Sie recht herzlichen Dank.