Verehrte Anwesende, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
am Volkstrauertag, wenn in Deutschland die Fahnen auf Halbmast wehen, gedenken wir der deutschen Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen. Wir begehen in diesem Jahr einen bedeutenden Jahrestag, das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren. 1945 befreiten die Alliierten Deutschland vom Nationalsozialismus und beendeten damit das Sterben auf den Schlachtfeldern, in den Vernichtungslagern und in den ausgebombten Städten.
Sind wir also, wenn wir der Kriegstoten des 20. Jahrhunderts gedenken, in einer weit zurückliegenden Vergangenheit, die uns ohne Berührungspunkte zum Hier und Jetzt nicht mehr ängstigen muss? Die Schreckensbilder in den Abendnachrichten machen rasch deutlich, dass die Welt auch heute nicht vom Frieden regiert wird und Menschen nach wie vor unter Hunger, Krieg und Verfolgung leiden. So sind unsere Gedanken in diesem Jahr auch bei allen Opfern von Konflikten auf dieser Welt. Um die Fehler von gestern nicht zu wiederholen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Indem wir die Toten und die Orte des Schreckens nicht vergessen, wird ein unerlässlicher Beitrag zum Frieden und zur Demokratie in der Gegenwart geleistet.
Die Notwendigkeit, der Toten zu gedenken, wird in Anbetracht der Feinde unserer Demokratie erneut deutlich. Viele der terroristischen Gruppen, die auch auf junge Menschen eine hohe Anziehungskraft ausüben, sehen im europäischen Integrationsprozess die Wurzel allen Übels. Richtig ist, dass die Europäische Union vor großen Herausforderungen steht, wodurch sie regelmäßig auch unter Legitimierungszwang gerät. Die Notwendigkeit des europäischen Zusammengehens lässt sich wohl kaum eindrucksvoller unter Beweis stellen, als durch einen Blick auf das 20. Jahrhundert. Erst das Zusammenrücken der Nationen hat einen verlässlichen Frieden ermöglicht, welcher zuvor nicht möglich schien. Die Kriegsgräber von Millionen Toten mahnen die Lebenden und sind deshalb bedeutender Teil unserer europäischen Identität. Auch deshalb dürfen wir sie nicht radikalen Europagegnern, Extremisten und Nationalisten überlassen.
Lassen Sie uns deshalb auch gemeinsam dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge danken. Der VdK liefert seit fast 100 Jahren einen wichtigen Beitrag. Er erhält und pflegt im Auftrag der Bundesregierung Ruhestätten von Soldaten als Mahnmale gegen Krieg und Gewaltherrschaft. In 45 Staaten und auf derzeit 832 Friedhöfen gibt er den Toten ein Grab und ermöglicht damit ein Abschiednehmen, ein Trauern und Erinnern.
Siebzig Jahre Kriegsende, das sind auch Jahrzehnte seit dem Beginn der deutschen Teilung, die Familien, Freunde, ja ganze Gemeinden auseinander riss. Der Osten Europas, der bis 1990 vom Sowjetkommunismus beherrscht wurde, konnte erst mit dem Fall der Berliner Mauer zusammenwachsen und am europäischen Integrationsprozess teilhaben. Mit dem Sieg von Freiheit und Demokratie in den weitgehend friedlichen Umbrüchen vor 25 Jahren begann ein neues Zeitalter für Europa. Indem wir an diejenigen erinnern, denen diese universellen Werte nicht zuteilwurden, unterstreichen wir ihre Bedeutung als ein hohes und schützenswertes Gut. Hierin sehe ich eine unserer vordringlichsten Aufgaben, nicht nur am Volkstrauertag.