Verehrte Anwesende, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

67 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges fällt es vielen Menschen – insbesondere den jüngeren – schwer, die Bedeutung, die der Volkstrauertag für die Kriegs- und Nachkriegsgeneration hatte, zu begreifen oder gar zu teilen. Vom Ersten Weltkrieg möchte ich gar nicht sprechen, diese Zeit liegt ja noch viel weiter zurück. Ist der Volkstrauertag somit in naher Zukunft ein Gedenktag ohne Volk?

An diesem Novembertag versammeln sich nahezu in jeder Gemeinde, in jeder Stadt Menschen, die der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedenken. Auch wenn die Teilnehmerzahl abgenommen hat, so ist es doch denen, die sich versammeln, wichtig, gemeinsam an das Unrecht der Willkürherrschaft und an die Schrecken des Krieges, an das Leid der Menschen, die verfolgt, verschleppt, vertrieben, gedemütigt, verwundet oder getötet wurden, zu erinnern. Die Unmenschlichkeit hatte unglaublich viele verschiedene Facetten. Dabei bleibt seit Jahrzehnten unser Blick nicht in den nationalen Bahnen gefangen. Ausdrücklich schließen wir die Opfer der anderen Nationen in unsere Gedanken mit ein.

Leider herrscht auch heute kein Frieden auf der Welt. Als der kalte Krieg zwischen Ost und West zu Ende ging, dachten wir, dass nun endlich Friede sei. Doch kaum war das neue Millennium angebrochen, musste sich die Welt mit einer anderen Art von Konflikt, dem Terrorismus auseinandersetzen. So leisten heute immer noch etwa 7000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr an der Seite verbündeter Streitkräfte einen gefährlichen Dienst im Ausland. Ungefähr 100 Bundeswehrangehörige haben dabei bisher ihr Leben verloren. Unser Gedenken am Volkstrauertag gilt auch diesen Opfern und unsere Gedanken sind bei ihren Familien. Die Trauer der Angehörigen um die durch Krieg und Gewalt ums Leben gekommenen Menschen war in der Vergangenheit und ist auch heute unermesslich und überall in der Welt gleich.

Friedhöfe sind das eindrucksvollste Zeugnis für die Brutalität des Krieges und ihre Pflege mithin die dringlichste Mahnung. Dies ist auf den ersten Blick eine nahezu paradox anmutende Erkenntnis. Die Gräber der beiden Weltkriege erinnern nicht nur an die Erbarmungslosigkeit der Kämpfe und Willkür der Besetzung, sie werden längst auch als Fundamente der Versöhnung angesehen. Das gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich. Man denke nur an die vielen tausend Jugendlichen, die seit Beginn der 50er Jahre auf den Kriegsgräbern beiderseits des Rheins arbeiteten. Oder an den symbolträchtigen Handschlag von Helmut Kohl und Francois Mitterrand 1984 an den Gräbern von Verdun.

Die gelungene Aussöhnung der beiden einstigen Erbfeinde, deren 50-jähriges Jubiläum im Sommer gefeiert werden durfte, ebnete Deutschland den Weg zurück in die Völkergemeinschaft und gilt als Modell für ganz Europa. Die Erinnerung an die beiden Weltkriege ist fester Bestandteil der europäischen Identität.

Wir trauern heute gemeinsam. Trauer gehört genauso zum Leben wie Freude und Glück, weil der Tod untrennbar mit unserem Menschsein verbunden ist. Trauer bedeutet Innehalten, Innehalten in der Alltagshektik und mediendurchfluteten Welt. Trauer vereint und verbindet, gemeinsame Trauer gibt Kraft. Am heutigen Gedenktag vereinen sich individuelle und kollektive Trauer. Angehörige trauern um jene, die sie verloren haben. Unser Volk trauert um seine Opfer, aber auch – im Wissen um Schuld – um Opfer, die andere durch uns erleiden mussten.

Haben Sie recht herzlichen Dank.